Kritik zu Der Kleine Frieden im Großen Krieg

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Der Kleine Frieden im Großen Krieg

Eine Kritik zum Buch von Michael Jürgs

Das im November 2003 erschienene Buch wird ja inzwischen überall als Bestseller empfohlen und begeistert aufgenommen. Ich habe es vor ein paar Wochen gelesen und war sehr enttäuscht. Viel hatte ich mir davon versprochen, da es doch durch einen renomierten Journalisten recherchiert und geschrieben wurde. Michael Jürgs war u.a. Chefredakteur beim "Stern" und "Tempo" und hat sich in den letzten Jahren als Autor von Biographien einen Namen gemacht. Die Beschäftigung mit dem Buch hat mir persönlich weitaus mehr Fragen und Unklarheiten, als interessante neue Informationen gebracht. Zunächst finde ich, daß die wenigen Stärken in dem Buch immer dann zum Tragen kommen (besonders im Mittelteil), wenn sich Jürgs ganz hart an den originalen Tagebüchern z.B. vom Leutnant Zehmisch orientiert. Dann wird es interessant, ja teilweise sogar fesselnd. Da ist für mich auch sein Verdienst zu sehen. Jürgs hat u.a. eben diese Tagebücher beim Sohn des Leutnants aufgetan. Dazu kommen zum Teil völlig neue, interessante Fotos und Zeichnungen. Meiner Meinung nach hätte man allerdings besser die Aufzeichnungen einfach nur transkribieren, komplett veröffentlichen und es dann dabei belassen sollen. Was Herr Jürgs mit seiner teils blumig weihnachtswunderseligen, teils harten effekthaschenden Sprache (Generalhandschuhe an denen Blut klebt, Ratten, die Hunde fressen u.s.w) daraus gemacht hat, erinnert mich stark an die geschraubte Schreibweise eines Werner Beumelburg.

Längst als Legenden entlarvte Geschichten werden überbetont eingesetzt. Schon ganz am Anfang des Buches "zelebriert" Jürgs wieder mal das sog. Kindermassaker von Ypern. Ganze Schulklassen, die sich jauchzend samt Lehrer von der Schulbank freiwillig melden und dann von ihren Offizieren in den Tod geschickt werden, während sie das Deutschlandlied singen. Eine kitschige Metapher jagt die andere. Auffallend, daß danach fast jeder Soldat der genannt wird, natürlich ein kriegsfreiwilliger Student ist. Ein Landsturmmann von Seite 81 bleibt die einsame Ausnahme.

Es ist bekannt, daß sich 1914 eine große Anzahl Freiwilliger zu den Waffen meldete und die Kriegsbegeisterung in weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung groß war. Mich stört allerdings, wie Jürgs dies völlig stereotyp und verallgemeinernd immer wieder hervorhebt. Heute weiß man doch längst, daß die deutschen Regimenter des Jahres 1914 in Flandern keineswegs nur aus Freiwilligen bestanden. Außerdem war nicht jeder Freiwillige ein Schüler oder Student ! In den Einheiten der 4. Armee und in den entsprechenden Armeekorps war der Anteil mal höher und mal niedriger. Sieht man sich in den amtlichen Deutschen Verlustlisten der Jahre 1914/1915 bei den entsprechenden Regimentern einmal die schier unendlichen Reihen von Namen an, fällt auf, daß es nicht wenige Einheiten gab, die größtenteils aus aktiven Soldaten, Reservisten, Ersatz Reservisten und Landwehrmännern bestanden.

Bei den Angaben über Verluste dieser deutschen Regimenter drückt sich Herr Jürgs (gewollt ?) zumindest ziemlich undeutlich aus. So schreibt er z.B. über die kriegsfreiwilligen Studenten, die von ihren Offizieren in den Tod getrieben werden. Sie laufen Arm in Arm, die Gewehre über den Köpfen schwenkend, Blumen an der Pickelhaube, das Lied vom Vaterland auf den Lippen, ins britische Feuer (Zitat: "etwa hunderttausend sind es gewesen.").

Gleich im nächsten Satz nennt er die Zahl von 165 000 deutschen Gefallenen. Es bleibt offen, ob hier etwa alleine die Toten 1914 in Flandern gemeint sind. Aus dem Zusammenhang heraus könnte man es fast meinen. Das hieße die gesamte 4. Armee (und noch ein paar Divisionen dazu) wäre 1914 bei Ypern und an der Yser mit Mann und Maus vernichtet worden. Ein paar Seiten später schreibt er von 160 000 gefallenen Engländern und 300 000 Mann, die Deutschland bis Dezember 1914 "verloren" habe. Mir persönlich drängt sich der Eindruck auf, daß hier mal wieder aus Gründen der Effekthascherei bei den Verlustzahlen nicht ganz klar zwischen Gefallenen (also Toten) und Verwundeten, Vermißten und Gefangenen differenziert wird. In diesem Bereich hätte dem Buch mehr Ausgewogenheit und vor allem Präzision gutgetan.

Auch werden mal wieder die Schleusen von Nieuwpoort gesprengt, die, wie man heutzutage weiß, nur bei Flut geöffnet und bei Ebbe geschlossen wurden. Beumelburg läßt grüßen ! Das Buch von Karl Unruh: "Langemarck, Legende und Wirklichkeit" hat Jürgs wahrscheinlich nicht gelesen. In diesem für mich immer noch besten Buch über die Langemark-Legende hätte er ansonsten viele seiner aufgewärmten Klischees widerlegt gefunden. Dazu kommen kleine Fehler und Ungenauigkeiten, die sogar Hobbyforschern sofort auffallen müssen. Beim "95.! bayerischen Reserveinfanterieregiment" mag man noch auf einen Druckfehler tippen. Da taucht plötzlich ein deutscher "Unterfeldwebel" auf, der Infanterie-Offizier Zehmisch stützt sich auf seinen "Säbel" und schon im Text des Schutzumschlages ist von der frohen Nachricht die Rede, die sich an Weihnachten 1914 durch Gräben und "Bunker" verbreitet habe (die ersten Anlagen, die diese Bezeichnung verdienen, wurden in Flandern nicht vor 1915 gebaut).

Dann zieht sich wie ein roter Faden eine klare Trennung zwischen Bayern, Württembergern, Sachsen auf der einen und den bösen Preußen auf der anderen Seite durch das Buch. Aus welchem Grund ? Die Preußen reagieren nie auf Zurufe. Sie schießen aus ihrem Abschnitt hinüber, als sich die Bayern im Niemandsland mit den "Tommys" treffen und als dabei ein Engländer durch einen Schuß hinterrücks getötet wird, ist es natürlich ein preußischer Scharfschütze gewesen. Diese Tendenz zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch. Auch wenn man kein Anhänger des Preußentums und dessen ist, was man mit dem Begriff heute verbindet, fällt diese Schwarz-Weiß-Malerei störend auf. Anscheinend sind diese Farben nicht nur 1914 sondern auch 90 Jahre später "die Modefarben der Saison", wie Jürgs am Anfang des Buches die politische Stimmung in Europa beschreibt.

Jürgs läßt keine Gelegenheit aus, um "die Preußen", ab und zu von "den Deutschen" (deutsche Art= martialisch) abgelöst, als kriegslüsterne Killer darzustellen. Sie geben niemals Pardon, während alle anderen meistens menschlich bleiben. Bemerkenswert, daß er dabei wiederholt von fraternisierenden Hannoveraner und vor allem Westfälischen Regimentern schreibt, die ja zum preußischen Heer gehörten und sich größtenteils auch als Preußen ansahen. Die Preußen wohnten scheinbar für ihn 1914 nur in Potsdam und Umgebung. Hier hätte er dann aber auf der anderen Seite konsequenterweise z.B. von Brandenburgern sprechen müssen. Diese Trennung ist ungewöhnlich und mir völlig unverständlich, dient aber anscheinend der Intention des Buchs. Der Autor möchte außerdem so scheint es den Eindruck erwecken, daß die Flandernfront Weihnachten 1914 vor Ypern nur von Sächsischen, Bayerischen und ein paar Württembergischen Regimentern besetzt war, was einfach falsch ist. Da werden dann auch schon mal die Männer vom Reserve Infanterie Regiment 235 (aufgestellt in Koblenz und Bonn) zu Württembergern gemacht, die am 24. Dezember 1915 ihren englischen Gegnern ein Ständchen bringen. Oder ist hier etwa nur die Handvoll Soldaten gemeint, die sich eventuell aus Württemberg in dieses Regiment "verirrt" hat ? Auch hier lassen die ungenauen Informationen wieder alles offen.

Der absolute "Höhepunkt" ist für mich allerdings die Geschichte von dem angeblich Bayerischen 16. Brigade Ersatz Bataillon, das Weihnachten 1914 bei Diksmuide eingesetzt worden sein soll. Der Kommandeur war ein Deutscher mit dem britisch klingenden Namen John William Anderson (Zitat: "einer der Helden des Weihnachtsfriedens"). Die heroisch erzählte Geschichte besagt, er habe in einem belgischen Hospital auf der deutschen Yserseite eine Monstranz entdeckt. Diese habe er dann ehrenvoll und edel, wie die Bayern ja nun mal Weihnachten 1914 in diesem Buch sind, übers Eis der Yser an belgische Truppen übergeben lassen. Sogar ein Bild ist von dem Anderson vorhanden, der laut Jürgs 1916 an der Somme gefallen ist. Ein heldenhafter bayerischer Anführer einer heldenhaften bayerischen Truppe, so wird dem Leser suggeriert.

Allein, die Bayern haben 1914 nur ganze 12 Brigade Ersatz Bataillone aufgestellt und es existierte somit gar kein 16. Bayerisches Brigade Ersatz Bataillon. Das einzige Brigade Ersatz Bataillon mit der Nummer 16 wurde 1914 in Torgau errichtet. Dafür gab u.a. das Ersatz Bataillon des Infanterie Regiments 72 zwei Kompanien ab. Es kämpfte Oktober bis Dezember 1914 an der flandrischen Küste und bei Diksmuide. Es gab einen Major Anderson, der, in Angermünde geboren, zumindest 1910-1914 Hauptmann beim Infanterie Regiment Nr. 72 (Torgau) diente. Bei Beginn des Krieges wurde er höchstwahrscheinlich Major und Kommandeur des eindeutig preußischen Brigade Ersatz Bataillons Nr. 16. "Ein" William Anderson ist in der Online Datenbank des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge aufgeführt und am 7.10.1916 an der Somme bei Le Sars im Infanterie Regiment Nr. 361 gefallen. Dieses Regiment wurde wiederum u.a. aus eben dem besagten 16. Brigade Ersatz Bataillon aufgestellt. Gab es etwa zwei Offiziere mit dem Namen (John) William Anderson ? Oder hat Major Anderson etwa nie eine bayerische Kaserne von innen gesehen ? Die bayerischen Truppen bei Diksmuide waren eindeutig Preußen ! Wurden hier kurzerhand Tatsachen verdreht und aus preußischen Soldaten Bayern gemacht ? Passten preußische "Fraternisierer" einfach nicht ins Buch, weil sie ja eiskalte Killer waren ? Wieder bleiben viele Fragen offen, da leider auch auf ausführliche und nachvollziehbare Quellenangaben verzichtet wurde.

Für Tips, die hier etwas Licht ins Dunkel bringen, wäre ich deshalb dankbar. Meine diesbezügliche Anfrage über die Verlagsgruppe Randomhouse an Herrn Jürgs blieb leider unbeantwortet.

Mein persönliches Fazit: Michael Jürgs wird mit seinem Buch deshalb Erfolg haben, weil scheinbar in Deutschland in bezug auf historische Themen schon eine Art "Legendenseligkeit" besteht. Das hartnäckige Ignorieren von Autoren wie beispielsweise Karl Unruh und deren Erkenntnissen beruht wohl darauf, dass die nüchterne Realität allein zu roh und öde, teilweise unerträglich bis grausam war. Ein seliges "Wunder im Niemandsland" liest und verkauft sich eben viel besser. Die Hoffnung, als Neuerscheinung endlich mal ein gutes und vor allem sachliches 1.WK-Buch, durch einen kompetenten Journalisten geschrieben, zu lesen, ist leider dahin ! Man sollte nicht alles vorbehalt- und kritiklos konsumieren, was einem heutzutage als Literatur und im Fernsehen in bezug auf den Ersten Weltkrieg angeboten wird. Die 22,90 Euro hätte ich besser in ein anderes Buch investiert.


Hinrich Dirksen März 2004 
 
 


Ergänzung April 2004 Wie man lesen kann, hat die ARD kürzlich die Verfilmung des Buches durch die renomierte deutsche Produzentin Regina Ziegler in Auftrag gegeben. Gedreht werden soll ab Herbst diesen Jahres.



Ergänzung Juli 2004 Meine Anmerkungen zum Buch "Der kleine Frieden im Großen Krieg" stoßen auf großes Interesse. Bis heute ist leider keinerlei Reaktion von Randomhouse erfolgt. Es haben sich allerdings mittlerweile 3 ! verschiedene Personen unter dem Namen Michael Jürgs bei mir gemeldet. Ich mag Menschen mit Humor. Sollte wider erwarten auch der echte Herr Jürgs darunter gewesen sein, möge er mein skeptisches Schweigen entschuldigen. Auf vielfachen Wunsch füge ich hier meine zu den verschiedenen Punkten verwendeten Quellen an.

1. Quellen zur (Nicht)- Existenz des 16. Bayerischen Brigade Ersatz Bataillons

a. Busche, Hartwig: Formationsgeschichte der deutschen Infanterie im 1. Weltkrieg, Owschlag 1998 S. 74 - 80 (hier in bezug auf 16. Brig. Ers. Batl. besonders S. 76)

b. Cron, Hermann: Geschichte des Deutschen Heeres im Weltkriege 1914-1918, Berlin 1937 S. 369 (ein Reprint ist 1990 im Biblio Verlag/ Osnabrück erschienen)

c. Kraus, Jürgen (Bearb.): Die feldgraue Uniformierung des deutschen Heeres 1907- 1918, 2 Bde., Osnabrück 1999 Band 1 / S. 485 - 459


2. Einsatz des Preußischen 16. Brig. Ers. Batl. bei Diksmuide (z.T. ohne Seitenzahlen)

a. Cron, Hermann; Goes, Gustav: Mein Kriegstagebuch, o.O. o.J. Leider gänzlich ohne Seitenzahlen, bitte einfach unter "Schlacht an der Yser" bzw. "Schlacht bei Ypern" nachschauen.

b. Unruh, Karl: Langemarck. Legende und Wirklichkeit, Berhard und Graefe, München 1986

c. Verschiedene Gesamtdarstellungen wie z.B.: Stegemann, Hermann: Geschichte des Krieges, 1. Weltkrieg, 4 Bände, Deutsche Verlagsanstalt, 1917

Kuhl, Hermann: Der Weltkrieg 1914-1918. Dem deutschen Volke dargestellt. 6.-10. Tsd. 2 Bde. Berlin, Kolk, 1929

Der Große Krieg: in Einzeldarstellungen, Oldenburg, Stalling, 1918. 98 S. Karten Hier Heft 10 : Die Schlacht an der Yser und bei Ypern im Herbst 1914

Als weitere Anhaltspunkte mögen auch die Ortsangaben der Verluste dieses Bataillons gelten. In den entsprechenden amtlichen Preußischen Verlustlisten des Jahres 1914 ersieht man, daß es zunächst bei Antwerpen eingesetzt, weiter die Nordseeküste entlang bis an die Yser vorrückte. Kurz vor Weihnachten 1914 sind Verluste bei Diksmuide vermerkt. Stellvertretend zwei Einträge:

Preußische Verlustliste Nr. 97 vom 9. Dezember 1914, Seite 3483 Verluste des Brig. Ers. Batl. 16 Yserkanal am 9., 11., 12. und 16.11.1914 [hier dann einige Tote und Verwundete aufgeführt]

Preußische Verlustliste Nr. 134 vom 25. Januar 1915, Seite 4486 Verlust des Brig. Ers. Batl. 16 1. Kompanie, Wehrmann Otto Lützkendorf, Niedereichstädt/Querfurt [Geburtsort], gefallen am 22.12.1914 Diksmuide

3. Aufgehen des 16. Brig. Ers. Batl. in das Infanterie Regiment Nr. 361, in dem Anderson als Major fiel

a. Busche, Hartwig: Formationsgeschichte der deutschen Infanterie im 1. Weltkrieg, Owschlag 1998 S. 168

4. Zum Major Anderson allgemein

a. Rangliste d. Kgl. Preußischen Armee u. d. XIII. (Kgl. Württembergischen) Armeekorps für 1907. Mit d. Dienstalterslisten d. Generale u. d. Stabsoffiziere... Berlin, Mittler u. Sohn, 1907 S. 220. Hier ist Anderson als Oberleutnant mit Patent von 1902 im Infanterie Regiment Nr. 70 (Saarbrücken) aufgeführt.

b. Rangliste d. Kgl. Preußischen Armee u. d. XIII. (Kgl. Württembergischen) Armeekorps für 1910. Mit d. Dienstalterslisten d. Generale u. d. Stabsoffiziere... Berlin, Mittler u. Sohn, 1910 S.230. Anderson als Hauptmann mit Patent von 1909 beim Infanterie Regiment Nr. 72 (Torgau)

c. Deutscher Offizier-Bund: Ehrenrangliste des ehemaligen Deutschen Heeres, Berlin, Selbstverlag, 1926 S. 242. Stand Kriegsbeginn 1914. Anderson immer noch als Hauptmann im I.R. 72 (Torgau)

5. Zum Tode Andersons

a. Uebe, Friedrich: Ehrenmal des preußischen Offizier-Korps, Berlin 1939, Mittler & Sohn Eintrag Seite 9

b. Online Abfrage des VDK: http://www.volksbund.de/graebersuche/content_suche.asp Hier aufgeführt als "William Anderson".