Schmalleningken/Lena Grigoleit

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Wappen Schmalleningken

Schmalleningken

Lena G r i g o l e i t
Bäuerin aus Bittehnen, Memelland
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Lena Grigoleit in Bittehnen beim Interview im September 1989


Lena GrigoleitLogo Leerstelle.jpg berichtet über Schmalleningken:

Lena Grigoleit mit ihrer Kuh Rose in Bittehnen, ihrem Heimatdorf

Schmalleningken war geographisch interessant gelegen, was ich später erst richtig begriff. Für meine Mitgift hatten wir ein Haus mit Inventar gekauft, nämlich einen Kurzwarenladen. Meine Mutter, die etwas von Politik verstand, hatte uns gut zugeraten, doch etwas Festes zu erwerben. Die Vorbesitzerin war eine Jüdin, Clara Berlowicz. Sie wollte ihren Wohnsitz nach Jurbarkas verlegen für den Fall, daß Adolf käme. Viele Juden taten das seinerzeit. Direkt hinter Schmalleningken verlief bis zum Ende des ersten Krieges die alte preußisch-russische Grenze, und Jurbarkas war das nächste Städtchen jenseits, auf russischer Seite.

Jetzt war alles eins. Litauen war nicht mehr russisch, und unser Memelgebiet war litauisch. Aber wie lange würde das dauern? Nach dem Strom hin, in Richtung Reich, wachte der Zoll. Da stand mein Mann auf Posten. Vielmehr er hatte die ganzen Zöllner unter sich, Konstantin war der Oberste im Amt.

Schmalleningken war nicht sehr groß, aber fast städtisch und trotzdem gemütlich. Post und Apotheke gab es, Ärzte für spezielle Krankheiten, ein großes Hotel, denn es war viel Durchgangsverkehr, Gastwirtschaften noch und noch, schöne Kaufläden, eine Kirche und eine Synagoge, eine Dampferanlegestelle und einen Hafen für die Boydaks und das Holz auszuladen, Lager, Kontore und allerhand sonst. Man sagte mir, der Platz wäre durch die Konterbande reich geworden, vor dem ersten Krieg. Reich ist vielleicht übertrieben, und gewiß gab es auch ordentliche Leute und ordentlichen Handel. Aber ein Schmugglernest war es schon. Viele Fremde hatten sich hier niedergelassen, auch Russen, auch Polen, und die Juden waren besonders zahlreich.

Der Kurzwarenladen war genau das richtige für mich. Mir gefiel das Bedienen. Den ganzen Tag zwischen Zwirn und Wolle, Knöpfen, Unterzeug und den ganzen Kinkerlitzchen, alles rauskramen und wieder Ordnung schaffen, beraten, da war immer was los. Da konntest du Anekdoten erleben, auf dem Dorf brauchst du hundert Jahre dafür. Einmal zum Beispiel kam eine Frau in den Laden. Alles war schon auf Karten, und sie fragte, ob ich noch ein Paar Schlüpfer hätte.
Ich hatte noch welche im Karton, schöne dicke in Rosa.
Sagte sie: “Wissen Sie, ich bin blond, ich brauche blaue.”
Hör ich richtig? Sie freute sich nicht, daß sie die letzten Schlüpfer im ganzen Umkreis bekommt, sie wollte blaue! Solche Luxusmenschen hab ich bis dahin nicht gekannt.

Mein Mann war sehr ordentlich und strebsam, so daß ich mich zusammennehmen mußte. Ich war doch mehr als neun Jahre jünger als er, wollte noch viel erleben und nahm das Leben nicht so tragisch, wie man sagte. Einmal die Woche gingen wir aus. Erst zum Frisör, und meistens dann in Löwrigkeits großen Saal zum Fest. Konstantin liebte das auch. Er mochte es sehr, sich gut anzuziehen. Wenn ich schon mit meiner Toilette fertig war, hat er immer noch gepinselt und gemacht.
Er hatte dunkles Haar, und alle sagten immer: “Der Mann sieht sehr gut aus.” Alle wollten mit ihm tanzen, auch wenn er kein großer Tänzer war.

Einmal hörte ich im Radio eine Rede von Hitler. Ich wollte gar nicht, aber ich hörte doch, wie er den Masaryk, den Tschechen, einen Bluthund nannte. Ich dachte: Mensch, das ist kein Staatsmann, Adolf war auf den Plan getreten, aber wir hofften insgeheim immer, er würde an uns vorübergehen.”

Rückkehr ins Reich - zwischen zwei Feuern

Eines schönen Tages kam eine Frau in den Laden gestürzt: “Frau Kondratavičiene, wir sind deutsch!” Sie war begeistert, und ich konnte doch nicht zugeben, daß ich erschrocken war. So sagte ich forsch: “Jetzt wird die gute Zeit beginnen.” Innerlich zitterte ich. Es dauerte keine halbe Stunde, da hingen beiderseits der Straße die Fahnen, von oben bis zur Straße runter. Alle hatten sie heimlich genäht. Das wußte ich, denn seit ein paar Wochen wurde das rote Garn knapp.

Ich lief wie betäubt durch die Straßen. Eine Freundin schleppte mich durch den Trubel. Hitler sollte schon in Memel sein. Zu uns nach Schmalleningken schickte er bloß ein paar Soldaten und einen Redner für die Begrüßungsansprache. “Willkommen im Reich. Wir danken euch für die unerschütterliche Treue!” und so weiter. Alles Hitlermenschen um mich herum, manche freuten sich vielleicht auch nur zum Schein.

Es war März, 1939, glaube ich. Jetzt mußte ich mich umstellen. Ich konnte doch nicht mein Haus verlassen und weglaufen. Viele Bekannte packten und machten rüber. Wer litauisch war oder dachte, ging über die Grenze, und die Juden natürlich, die bis dahin geblieben waren. Die Synagoge brannte, das war die erste Schande, die uns die neue Zeit einbrachte.

Mein Mann verschwand für eine Weile, zur Sicherheit und weil er doch Staatsbeamter war. Er mußte in der Hauptstadt , in Kaunas, die Dokumente abliefern und Abrechnungen vorlegen, sonst wäre er doch fahnenflüchtig gewesen. Wenn er sich freigemacht hatte von der Pflicht, wollte er zu uns zurückkommen.

Lange blieb er nicht fort. Kurz bevor der Krieg mit Polen anfing, war er wieder bei uns. Er war nun Ausländer, ich Deutsche. Wegen unserer Ehe wurde er geduldet, beim Zoll durfte er natürlich nicht mehr arbeiten. Das schlimmste war, dass ständig die Gestapo hinter ihm her war. Die wollten ihn um jeden Preis anwerben.

Zuerst versuchten sie es hintenrum und beknieten mich. “Frau Kondratavičiene, sehen Sie zu, dass Ihr Mann Deutsch lernt, solche Leute brauchen wir.° Die hatten die Vorstellung, er wäre als Spitzel geeignet. Konstantin sprach Litauisch, er sprach Russisch, weil er doch in der Zarenzeit ein paar Klassen Gymnasium genossen hatte. Und er kannte die Gegend diesseits und jenseits der Grenze wie seine Westentasche.

Litauen wird von den Russen besetzt

Seit dem Sommer 1940, die Irina war gerade geboren, wurde es noch schwieriger. Nachdem Stalin Litauen und die anderen baltischen Länder einkassiert hatte, lag Schmalleningken praktisch direkt vor der Tür des Bären. Mein Konstantin sollte dort spionieren gehen. Niemals hätte er sich dafür hergegeben, du hättest ihn vorher totschlagen müssen. Er verstand schon Deutsch, gar nicht mal so schlecht, nur sprechen tat er nie.

Also die Gestapo lag mir in den Ohren. Und ich lavierte: “Wissen Sie, Herr Karsten”, so hieß der Oberste von denen, “ich müh mich schon seit vielen Jahren. Aber er ist so ein Stubbenkopf. Wenn einer nach zwei-, dreimal den Satz immer noch nicht wiederholen kann, dann bin ich fertig mit den Nerven. Entweder ich werde verrückt, oder er wird verrückt. Wir beide werden uns noch darüber verzanken.” So hab ich ihn hingestellt, bis sie von ihm abgelassen haben.

Und dann fielen sie auf mich. “Hören Sie, was die Kundschaft redet. Was sie für eine Einstellung haben. Wer von drüben kommt, aus dem roten Litauen.” Mein Kurzwarenladen war direkt gegenüber dem Büro der Gestapo. Jeden Tag praktisch kamen Leute von der anderen Seite der Grenze zum Einkaufen. Die vertrauten mir, ich kannte so manchen. Ach du großer Gott, der eine hatte geschmuggeltes Geld unter dem Paletot. Ein anderer wollte eine Nachricht hinterlassen für einen Bekannten. Woher sollte ich wissen, ob das nicht eine verschlüsselte politische Botschaft war?

Dann plötzlich stand der Krüger im Rahmen, wollte sich aussprechen. Das war der Nachbar, der mit einer Betty Adelssohn aus Tilsit verheiratet war, einer sehr schönen Jüdin. Er kam immer, um sich zu beklagen, er fände keinen Platz für seine Frau und seinen Sohn Hansi, die Verwandten in Ostpreußen weigerten sich, sie zu verstecken, ob ich nicht jemand wüßte. Kaum war er zut Tür heraus schoß die Gestapo herein. “Was spricht der Krüger?” Ich mußte gleich umschalten: “Ach, der ist so traurig, dass er nicht mitkämpfen darf fürs Vaterland. Wegen seiner Frau lassen sie ihn nicht, da grämt er sich sehr.” Das war nicht ganz falsch, weil der Krüger wirklich partout in den Krieg wollte, am liebsten nach Frankreich. Wenn ich ihn verraten hätte, dann wäre er sofort weggeschleppt worden.

Die Gestapo-Menschen waren meistens keine aus der Gegend. Da war ein Rheinländer und einer noch weiter her, die Sprache von denen war schon von Natur aus anders. Aber sie fühlten sich bei mir fast wie zu Hause. Diese Kerle waren immer hungrig, obgleich sie einen guten Posten hatten.
“Was gibt es heute bei Ihnen, Frau Kondratavičiene?”
Sie beschmusten mich und ich sie.
“Na, gehen Sie zur Steffi in die Küche, und gucken Sie in den Topf.”
Die Steffi, mein Pflichtjahrmädchen, war eine ganz helle und wußte über fast alles bei uns Bescheid. Sie bediente die Bande.

Auf dem Rückweg kam der Lümmel wieder in den Laden und schnaufte noch mit dem Klops im Mund:
“Ich sage Ihnen, Frau Kondratavičiene, wir können heute zusammen essen und trinken und gut Freund sein, aber wenn es heißt, Sie haben etwas gemacht und sollen festgenommen werden, sofort muß ich das machen.”

Die guckten von ihrem Fenster sogar, was die Kinder taten.
“Birute, werde ein deutsches Mädchen. Sprich nicht litauisch mehr. Irena, spiele du nicht mit dem Judenbengel Hansi.”
Besonders der Karsten, der war ein Hundertfünfzigprozentiger, der hörte nicht auf, uns zu piesacken. Eigentlich hieß er Schibrowski, er hatte sich umgetauft auf deutsch.

Es ist schrecklich in einem Grenzort, wenn du eide Sprachen kennst. Einer sagt, du bist deutsch, der andere sagt, du bist Litauer. Diese verlassen sich auf dich, jene wollen wieder was von mir haben, Und ich steh so zwischen zwei Feuern. Die Unsrigen forderten auch ihren Teil. Damals habe ich zum ersten Mal mich als Litauerin gefühlt. Unter diesen Umständen konnte ich doch für die Deutschen nicht sein.

Grenzgänger

Damals wollten viele Emigranten heimlich über die Grenze, Litauer meistens, die vor dem Bolschewismus geflohen waren. Mancher wünschte noch Speck zu holen von seinem Hof, denn er hatte Hals über Kopf alles liegen- und stehen lassen, und es war doch schon alles knapp. Oder sie hatten ihre Dokumente oder Wertsachen vergessen oder eingegraben vor der Flucht, oder sie wollten nach Verwandten forschen, die Stalin nach Sibirien gebracht hatte. Immer hieß es: “Geht zu Kondratavičius rauf, die werden euch über die Grenze helfen.” Konstantin ging mehr, aber oft ging auch ich.

Man mußte sich spätabends auf Schleichwegen nach dem Wald durchschlagen. Dann einen Umweg machen weg von der Grenze und wieder zurückzu einem Bauernhof, wo ein Mann mit Namen Karvelis wartete. Er oder unser Freund Julius begleiteten den Betreffenden das letzte Stück des Weges. Nur die Sventoje, ein kleiner Fluß, war von dort aus zu durchwaten. Längs desselben marschierten die Patrouillen, hier die Deutschen, drüben die Russen. Wenn sie außer Sichtweite waren, wurde unser Mann durchs Wasser über die Grenze geschubst. Schnell rüber, und jenseits waren auch Menschen, bei denen man unterkommen konnte.

Einmal kam eine Freundin aus Berlin mit ihrem litauischen Verlobten, der auch etwas zu Hause vergessen hatte. Wir versteckten sie einige Tage in der Oberstube, bis wir alles ausgekundschaftet hatten. Es war vereinbart, sobald er über die Grenze ist, wird ein Schuß losgelassen. Ich führte ihn, und glücklich kamen wir zur Hecke, wo schon Julius nach uns Ausschau hielt. Zurück ging ich über die öffentliche Straße. Damals wußte ich nicht so richtig, in welcher Gefahr ich mich befand. Was, wenn die Gestapo mich gesehen hätte oder auch nur so ein einfacher Hitlermensch? “Was machst du spätnachts auf der Straße?” -
“Ich bin spazierengegangen”, hätte ich geantwortet und wäre womöglich nicht damit durchgekommen.

Mit der Freundin saßen wir am Fenster hinter der Gardine und warteten auf den Schuß. Endlich, nach zwei Uhr, fiel er. Es dauerte vielleicht zwei Wochen, da wurde der Julius verhaftet und nach Tilsit ins Gefängnis gebracht. Nachbarn oben vom Berge hatten doch etwas Verdächtiges bemerkt und Meldung gemacht.
Wir haben den Julius nie wiedergesehen.

Krieg

An Mitsommer 1941 kam der Krieg zu uns. Ich besinn mich noch genau, wie er ausbrach. Abends lagen vor dem Fenster die Soldaten, sprungbereit. Sie hatten Tarnkleider an und mahnten mich, in den nächsten Tagen auf die Kinder achtzugeben. “Paß auf, heute nacht um drei Uhr geht es los.”
Es wurde schon hell, als die Schießerei anfing. Abends kamen schon verwundete Soldaten zurück. Nachher ging die Front immer vor, immer voran, und wir blieben zurück und wirtschafteten weiter.

Nie im Leben werde ich das Geschrei vergessen in diesen ersten Tagen des Krieges. Ein Geschrei, ach Vater im Himmel, du konntest verrückt werden! Von jenseits der Grenze schrieen die Juden, sie schrieen, schrieen, von Jurbarkas bis Sudargen und von all den kleinen Dörfern dorten. Sie haben alle zusammengetrieben. Sie mußten selber ihre Gruben graben, und dann wurden sie lebendig reingeschmissen.

Auch unsere Schmalleningker Juden, die auf der anderen Seite Quartier bezogen hatten, blieben nicht verschont. Die Clara Berlowicz, von der wir das Haus gekauft hatten, war dabei. Ihre Schwester, die Frau Simon, die immer so lustig war wegen nichts. Sie hatten einen Tuchladen schräg gegenüber von uns und so ein liebliches Töchterlein, Ewa. Der Simon ist ein deutscher Krieger gewesen, hat viel gespendet für das Deutsche Reich. Das hat alles nicht gezählt. Von Schmalleningken mußten etliche Beamte vom Zoll und von der Polizei mitschießen. Die wurden gezwungen, einfach abkommandiert und fertig.

Einer, der zurückkam, hat alles erzählt unter Tränen.
“Ich kann aus dem Verstand gehen, Ich bin schon ganz dumm davon.”
Er hatte die kleine Ewa gesehen, wie sie vor die Grube geschleppt wurde.
“Lauf weg, Mädchen, lauf, ich werde dich nicht sehen.”
“Nein”, sagte sie, “wo meine Mutter ist, bleib ich auch.”
Sie haben sich umfaßt und fielen zusammen ins Grab. [1]

  1. Ulla Lachauer, Paradiesstraße, Lebenserinnerungen der ostpreußischen Bäuerin Lena Grigoleit, Seite 38 - 45, Rowohlt 1996, ISBN 3 498 038788